Bundestagswahl: Wer schafft Barrierefreiheit?

Wahlprogramme zu studieren ist müßig. Eigentlich wollen alle Parteien schließlich nur das Allerbeste und stellen sich als die einzigen dar, die man wirklich wählen kann. Am Ende bleibt nach den Koalitionsverhandlungen von den Inhalten jedoch oft nur wenig übrig. Dennoch bieten die verschiedenen Wahlprogramme immerhin die Möglichkeit, eine fundierte Wahlentscheidung zu treffen.

Mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl habe ich mir die Programme der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien mit meinem ganz eigenen Fokus auf Barrierefreiheit angeschaut. Im Folgenden möchte ich Dir eine kurze Übersicht an die Hand geben, damit Du auf einen Blick sehen kannst, welche Partei was für Barrierefreiheit tun will. Die Einordnung ist völlig subjektiv – nimm es mir also nicht übel, wenn ich mit Deiner präferierten Partei wenig wohlwollend umgehe.

Barrierefreiheit wollen immerhin fast alle

Eine Einschränkung möchte ich jedoch vornehmen: hier geht es nur um wirkliche Lösungsvorschläge. Mehr Barrierefreiheit wollen natürlich fast alle – nur bleibt es seit Jahren beim Wollen. Die Wahlprogramme sind voll von „wir wollen“ und „wir setzen uns ein“ oder – und das scheint mir eine FDP-Kernqualität zu sein – „wir fordern“.

Wie oft kommt denn das Stichwort „barrierefrei“ überhaupt in den einzelnen Wahlprogrammen vor?

  • DIE LINKE: 44 Treffer
  • BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 30 Treffer
  • SPD: 11 Treffer
  • FDP: 6 Treffer
  • CDU/CSU: 6 Treffer

Die sechste im Bundestag vertretene Partei wollte und will ich hier nicht erwähnen. Aber es zeigt sich, dass „barrierefrei“ dort ohnehin nicht auftaucht. Einzig das Stichwort „Barriere“ kommt einmal vor: bei der Forderung nach gesicherten Grenzen. Aber so ist es wohl – die einen wollen Barrieren abbauen und die anderen kümmern sich lieber um den Barriereaufbau.

Aber gut, schauen wir mal rein, wie denn nun die barrierefreie Zukunft erreicht werden soll…

CDU/CSU

Meine vorab beschriebene Einschränkung kommt natürlich nicht von ungefähr. Von den wenigen Stellen, an denen CDU/CSU das Thema Barrierefreiheit erwähnen, sind die meisten allgemeingültige Aussagen, aus denen kein Lösungsansatz hervorgeht. Das klingt dann zum Beispiel so:

Wir sorgen dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger einen digitalen, wohnortnahen und möglichst barrierefreien Weg, zum Beispiel zur Haus-, Fach-, Zahnarzt- und Notfallversorgung, zu Apotheken, Hebammen, Physiotherapeuten, Gesundheitshandwerken und Sanitätshäusern haben.

Toll, dass Ihr dafür sorgt. Nur wie das erreicht werden soll, wird nicht beschrieben. Einzig bei der Frage nach barrierefreiem Wohnen gibt es ein Lösungsangebot:

Uns ist wichtig, dass Menschen möglichst lange in der eigenen Wohnung, im Haus oder im angestammten Wohnviertel leben können. Deshalb werden wir die dafür erforderlichen Investitionen in den altersgerechten und barrierefreien Umbau – insbesondere über KfW-Programme – unterstützen.

FDP

Die FDP stellt vor allem Forderungen auf, zum Beispiel „die vollständige und umfassende Barrierefreiheit im öffentlichen Raum“. Diese Aussage steht im Kapitel zur Mobilität – wie diese Barrierefreiheit jedoch erreicht werden soll, wird nicht näher erläutert.

Alle notwendigen Amtsgänge sollen virtuell und barrierefrei möglich und alle Dienstleistungen mit digitalen, medienbruchfreien Verfahren durchführbar sein.

Die einheitliche und digitale Plattform namens „Deutschlandportal“ soll Verwaltungsvorgänge gebündelt digitalisieren. In Kombination mit dem zitierten Satz gehe ich davon aus, dass dieser einheitliche Zugang (nach ohnehin geltendem Recht) barrierefrei sein soll. Weniger Kontaktstellen mit der öffentlichen Verwaltung bedeutet natürlich zugleich weniger potenzielle Barrieren.

Darüber hinaus möchte die FDP alle öffentlichen Stellen dazu verpflichten, „ihre digitalen Angebote standardmäßig barrierearm und idealerweise barrierefrei anzubieten.“ Gut, die Verpflichtung gibt’s natürlich schon, aber vielleicht wollen sie diese ja auch umsetzen und haben es nur nicht erwähnt?

Wir Freie Demokraten fordern mehr barrierefreien oder -armen Wohnraum in Bestand und Neubau. (…) Ein breites Bündnis von Bund, Ländern, Kommunen, aus Wissenschaft und Praxis, Politik und Gesellschaft soll das Thema „Wohnen im Alter“ mehr in das Bewusstsein aller Akteure rücken und Lösungen erarbeiten

Dieser Punkt hat für mich ein starkes Geschmäckle von „jemand müsste mal“. Mit welchen Impulsen die FDP in dieses Erarbeiten von Lösungen gehen will, wird nicht ersichtlich. Lediglich „bestehende Förderungen sollen zusammengeführt“ und „Anreizmodelle“ geschaffen werden. Wie diese konkret aussehen? Keine Ahnung.

SPD

Bei der SPD wird es schon konkreter. Daher die angebotenen Lösungen kurz und knapp:

  • „Einrichtung von barrierefreien Mobilitätsstationen“ an Knotenpunkten
  • Förderung von Volkshochschulen zur Bereitstellung barrierefreier digitaler Bildungsangebote
  • Schaffung einer „Ansprechstelle für Arbeitgeber*innen kleiner und mittlerer Unternehmen“, u. a. zur Beratung zu Barrierefreiheit
  • Einrichtung eines „Bundesprogramms Barrierefreiheit“ zur Förderung von Kommunen für barrierefreie/-arme Wohnungen & Freizeiteinrichtungen, „das über entsprechende Ressourcen verfügen muss.

GRÜNE

Im Wahlprogramm der Grünen taucht Barrierefreiheit deutlich häufiger auf. Und auch hier gibt es einige Stellen, an denen Forderungen oder Wünsche formuliert werden, ohne Lösungen zu zeigen. Ein Beispiel dafür ist der Wunsch: „Barrierefreiheit der Bahn wollen wir in zehn Jahren erreichen.“ Und wie soll das aussehen? Ich persönlich will das ja lieber morgen als in zehn Jahren erreichen.

  • vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV durch „Investitionen in Fahrzeuge und das ÖPNV-Netz“ sowie Ausbau der „Finanzierungsinstrumente wie (…) Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und (…) Regionalisierungsmittel“
  • Gewährleistung einer (auch barrierefreien) „Mobilitätsgarantie mit gesetzlich definierten Standards für Erreichbarkeit und Erschließung“
  • „verpflichtende Vorgaben zur Barrierefreiheit bei der Bedarfsplanung“ von Gesundheitsleistungen, sprich Berücksichtigung der Barrierefreiheit bei der Verteilung von medizinischen Praxen
  • Digitalisierungspauschale, über die von Hochschulen IT-Barrierefreiheit eingefordert wird
  • Ausarbeitung eines „Barrierefreiheits-Gesetzes“, darin enthalten:
    • Verpflichtung „private(r) wie öffentliche(r) Anbieter*innen öffentlich zugänglicher Angebote und Dienstleistungen zu umfassender Barrierefreiheit“
    • Verpflichtung des Bundes „zur Herstellung der Barrierefreiheit seiner Gebäude“ innerhalb von zehn Jahren
    • Verpflichtung kleiner Unternehmen „zu angemessenen Vorkehrungen“ mit gleichzeitigem Schutz durch „Überforderungsklausel“
    • Erhöhung der Bundesförderung zur Steigerung des Anteils barrierefreier Wohnungen
    • Bindung sozialer Wohnraumförderung an Barrierefreiheit
  • Schaffung einer öffentlichen Förderstiftung für (u. a. barrierefreie) Open-Source-Software

LINKE

DIE LINKE hat in ihrem Wahlprogramm die häufigsten Treffer für das Stichwort „barrierefrei“. Das liegt vor allem daran, dass konsequent bei allen Forderungen und Vorschlägen Barrierefreiheit mit aufgeführt wird. Egal ob bei infrastrukturellen Angeboten für Kinder und Jugendliche oder Angeboten für ältere Menschen: Barrierefreiheit wird immer erwähnt.

  • Teilhabegesetz für Senior*innen mit geregeltem Anspruch auf barrierefreien Wohnraum
  • Berücksichtigung von Barrierefreiheit als Kriterium bei der gesundheitlichen Versorgung (siehe auch Bedarfsplanung bei Grünen)
  • „Investitionsprogramm Inklusive Bildung“ für barrierefreien Umbau und Ausstattung von Bildungseinrichtungen (→ auch: „barrierefreie Zugänge für alle Kinder“ an allen Schulen)
  • Bindung öffentlicher Investitionen und Fördergelder an das Kriterium Barrierefreiheit
  • Verpflichtung „private(r) Anbieter*innen von öffentlich zugänglichen Gütern und Dienstleistungen zur Herstellung von Barrierefreiheit gemäß UN-BRK“ durch Aufnahme neuer Regelungen in AGG, BGG und andere Gesetze
  • Gebot der Barrierefreiheit im Wohnungsbau, d.h. zum Beispiel „Vermieter*innen dürfen die Zustimmung zu einem behindertengerechten Umbau ihrer Wohnung nicht mehr verweigern können.“
  • Ausrichtung der Städtebauförderung „auf altersgerechten und barrierefreien Umbau von Gebäuden“ sowie „Entwicklung von inklusiven und umfassend barrierefreien Lebensräumen und Stadtquartieren
  • gesetzlicher Anspruch auf Dolmetschenden-Leistungen im medizinischen Bereich
  • Zukunftsprogramm mit Investitionen zur barrierefreien und ökologischen Sanierung von Sportstätten

Was bringt die neue Legislaturperiode?

Eigentlich müsste wir in vier Jahren ein großes Stück näher an einem barrierefreien Deutschland sein. Schließlich wollen ja alle Parteien mehr Barrierefreiheit. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ohne konkrete Vorhaben wenig passiert.

Je nachdem welche Koalition Deutschland in den nächsten Jahren regiert, gibt es durchaus Hoffnung auf einen Schub für die Barrierefreiheit. Kernpunkte ist meiner Meinung nach ein umfassend verpflichtendes Gesetz, das anders als das frisch verabschiedete „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“ der Großen Koalition seinem Namen gerecht wird.

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