Seit mittlerweile einem Jahr findet der Großteil des gesellschaftlichen Lebens im Digitalen statt. Video-Konferenzen, Live-Streams und Online-Veranstaltungen dominieren seitdem den Alltag vieler Menschen. Unüberwindbare Treppen und Anreisewege mit nicht barrierefreien Verkehrsmitteln stellen somit aktuell keine Barrieren mehr dar. Doch sind Online-Veranstaltung deshalb grundsätzlich barrierefreier? Ermöglicht die Verlagerung ins Digitale mehr Teilhabe für alle Menschen?
Du hörst die zehnte Episode des barrierefrei·Podcasts. Anlässlich dieses kleinen, ersten Jubiläums habe ich mir heute jemanden eingeladen. Kerstin Hoffmann-Wagner ist eine der führenden Expert_innen im Bereich barrierefreie Veranstaltungen. Auch sie hat den Weg genommen, den uns die Corona-Pandemie aufgezwungen hat: raus aus der physischen Präsenz und rein in die Welt von digitalem Beisammensein.
Online heißt nicht zwingend barrierefrei
Kerstin Hoffmann-Wagner: Bei Online-Veranstaltungen verhält es sich eigentlich genau so, wie bei Offline-Veranstaltungen: Ich sollte mir als Veranstaltende erst einmal darüber bewusst werden, dass es auch hier Barrieren geben kann, die jemanden von der Teilnahme abhalten.
Durch den Wegfall der physischen Location ist die Teilnahme natürlich zunächst einmal wesentlich flexibler möglich – quasi von jedem Ort aus. Doch um auch bei digitalen Events die Teilhabe für alle Interessierten zu ermöglichen, gilt es, sich weitere Aspekte vorab genau anzuschauen.
Zum Teil existieren je nach Online-Tool derzeit noch erhebliche Hürden, was die Teilnahme für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen angeht. Die Fragen hier zum Beispiel: Ist eine Live-Untertitelung der Redebeiträge möglich? Oder gibt es Schnittstellen, um Gebärdendolmetscher dazu schalten zu können?
Aber auch für Menschen mit einer Sehbehinderung gestaltet sich die Teilnahme häufig sehr schwierig: Kann das gewählte Online-Tool auch über die Tastatur bedient werden? Ist die Orientierung innerhalb des Tools, zum Beispiel von einem Sessionraum zum anderen problemlos möglich?
Diese Punkte sind Beispiele für mögliche Barrieren im digitalen Raum.
Martin Schienbein: Die meisten Veranstaltungen werden als Videokonferenz oder zumindest mit Videobeteiligung durchgeführt. Wolfang Wiese hat auf seinem Blog eine umfassende Übersicht zu den verschiedenen Software-Lösungen zusammengestellt. Den Link findest Du in den Shownotes oder im Transkript dieser Episode auf barrierefreiPodcast.de.
Kerstin hat schon die Erstellung von Untertiteln angesprochen. Im Idealfall erfolgt das natürlich als professionelle Dienstleistung von Menschenhand. Automatisch generierte Untertitel sind nicht das Gelbe vom Ei, aber immerhin besser als nichts. Die gängigen Plattformen wie Zoom, Google Meet oder MS Teams bieten soetwas zum jetzigen Zeitpunkt nur auf Englisch und mitunter nur in der Bezahlversion an.
Eine einfach umzusetzende Variante ist es, einen externen Dienst zur Untertitelung zu nutzen und diesen über Bildschirmfreigabe zu teilen. Ich persönlich finde den Microsoft Translator dafür ganz gut geeignet, da Groß-/Kleinschreibung und Satzzeichen ebenfalls mit erstellt werden. Die Software Webcaptioner funktioniert ohne Anmeldung, allerdings nur über Google Chrome und ohne wirkliche Grammatik-Erkennung.
Was können Veranstaltende jetzt lernen, um auch für die Zukunft gewappnet zu sein?
Kerstin Hoffmann-Wagner: Generell gilt sowohl für Online- als auch für Offline-Veranstaltungen (und Hybrid wäre die Kombination aus beidem), sich vorab genau die eigene Zielgruppe anzuschauen und in Kontakt zu bleiben: Welche Bedürfnisse haben meine Teilnehmenden?
Eine wichtige Frage ist zum Beispiel, wie technikaffin die eigene Zielgruppe überhaupt ist? Hier gibt es – übrigens unabhängig vom Alter – große Unterschiede. Welche Barrieren könnten existieren und jemanden von der Teilnahme und somit von der Teilhabe meiner Online-Veranstaltung abhalten?
Prinzipiell sollte immer nach dem Motto gearbeitet werden: So einfach wie möglich. Wenn es um die Auswahl eines Event-Tools geht heißt das, welches Programm ist so einfach in der Bedienbarkeit, dass es alle Interessierten schnell und ohne vorherige Einführung bedienen können. Hier lohnt es sich auf jeden Fall, sich bei speziellen Event-Plattformen von Profis beraten und begleiten zu lassen.
Martin Schienbein: Eine solche Beratung bietet Kerstin zum Beispiel auch an. Gerade wenn es eine größere Veranstaltung mit vielen Teilnehmenden ist, sollte Barrierefreiheit von Anfang berücksichtigt – und ja, auch einkalkuliert – werde.
Da ich ein großer Freund der kleinen Schritte bin, werde ich auf dem barrierefrei·Blog eine Liste mit einfach umzusetzenden Punkten aufstellen. Wie schon bei den Untertiteln gibt es immer Möglichkeiten, unkompliziert und ohne großen Aufwand für etwas mehr Barrierefreiheit zu sorgen. Auf Twitter, LinkedIn und Instagram werde ich die Liste natürlich teilen. Wenn Du mir dort folgst, kannst Du sie also gar nicht verpassen.
Drei wichtige Tipps gibt Dir Kerstin direkt schon mal mit auf den Weg.
Kerstin Hoffmann-Wagner: Jede und jeder von uns kann auch jetzt schon einen wichtigen Teil zur Barrierefreiheit bei Online-Veranstaltungen tun, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen – als Veranstaltende und als Teilnehmende:
- Als Veranstaltende sollten sie vorab alle Referierenden dahingehend briefen, dass sie möglichst viel verbal erklären, was auf ihren Folien zu sehen ist.
- Wenn es möglich ist, sollten Veranstaltende vorab in Kontakt mit den Teilnehmenden gehen und erfragen, ob zum Beispiel Präsentationen vorab zugeschickt werden sollen oder ob Interesse an einer Aufnahme der Veranstaltung besteht, die im Nachhinein auch untertitelt werden könnte.
- Speaker und Teilnehmende sollten immer gut sichtbar sein, das heißt für eine gute Ausleuchtung am eigenen Gerät sorgen, für einen ablenkungsfreien Hintergrund und möglichst kontrastreiche Kleidung tragen – so wird man schnell und gut von allen Teilnehmenden gesehen und wahrgenommen.
Wenn Du mit Kerstin zusammen arbeiten möchtest, findest Du sie auf Twitter, LinkedIn und XING oder über Ihre Website für barrierefreie Veranstaltungen und Events.
Dass die Barrierefreiheit von Online-Veranstaltungen hier thematisiert wird, war übrigens ein Wunsch von einer Newsletter-Abonnentin. Falls Du auch einen Themenwunsch hast, schreib mir gern eine E-Mail oder kontaktier mich auf LinkedIn.