Immer mehr Menschen achten auf geschlechtersensible Sprache. Und erfreulich oft wird gleichzeitig auch über Barrierefreiheit nachgedacht. Ich möchte daher beide Themen zusammen betrachten. Im ersten Teil geht es um die Vereinbarkeit von Barrierefreiheit und Gendern. Wie barrierefrei die verschiedenen Möglichkeiten zu gendern sind, zeige ich Dir in Teil 2 am Mittwoch.
Vorab möchte ich eine kleine Einordnung vornehmen: ich bin dya cis männlich. Mein Geschlecht entspricht also dem mir zur Geburt zugewiesenen binären Geschlecht. Das bedeutet auch, dass ich von patriarchalen Strukturen profitiere und beim „generischen“ Maskulinum tatsächlich gemeint und nicht nur „mitgemeint“ bin. Es ist mir wichtig, das einzuordnen, weil ich durch diese Erfahrung natürlich geprägt bin.
Nichtsdestotrotz erkenne ich die Notwendigkeit einer sensiblen und geschlechtsneutralen Sprache. Ich trete vehement dafür ein. Auch hier gilt, was ich schon zu meinem Engagement für Barrierefreiheit schrieb: man muss nicht selbst betroffen sein, um aktiv für die Interessen Betroffener einzutreten. Doch gerade aus der Kombination dieser beiden Themen, Gendern und Barrierefreiheit, ergibt sich ein Problem:
Gendern ist nicht barrierefrei – es nicht zu tun, aber auch nicht!
Es gibt ein grundsätzliches Problem beim Finden barrierefreier Lösungen. Denn durch die Beseitigung einer Barriere errichtet man mitunter gleichzeitig eine neue. Wenn Bordsteinkanten zum Beispiel für Nutzende von Rollstühlen und Gehhilfen abgesenkt werden, erschafft das für blinde und sehbehinderte Menschen eine neue Barriere. Diese benötigen statt eines schwellenlosen Übergangs eine ausreichend hohe Kante, um den Übergang von Gehweg und Fahrbahn mit einem Langstock ertasten zu können. Und während eine Schreibweise mit Sonderzeichen wie in Nutzer*innen zwar geschlechtergerecht ist, kann die grundlegende Verständlichkeit zum Beispiel für einige Menschen mit Lernschwierigkeiten verloren gehen.
Barrierefreiheit ist ein komplexes System. Um allen Interessen zugleich gerecht zu werden, braucht es einen guten Überblick und eine Sensibilisierung für die unterschiedlichen Bedürfnisse. Nur so kann man die Barrieren-Umschichtung vermeiden. Manchmal lässt es sich allerdings nicht vermeiden. Das sind für mich die schwierigsten Situationen. Ohne selbst betroffen zu sein, soll ich eine Abwägung unterschiedlicher Interessen vornehmen. Das widerspricht meinem Ziel der barrierefreien Welt für alle.
Die Verwendung geschlechtersensibler Sprache ist genau so eine Situation. Der Verzicht und somit der Rückgriff auf ein „generisches“ Maskulinum schafft eine immense Barriere für Frauen, inter und nicht binäre Menschen. Konsequentes Gendern wiederum ist für andere Menschen eine mutmaßlich ebenso große Barriere.
Was also tun?
Eine pauschale Antwort gibt es nicht. Oder zumindest habe ich keine.
Wie gesagt, die Interessenabwägung ist eine schreckliche Aufgabe. Und doch läuft es darauf hinaus. Ich kenne Menschen, die vom „generischen“ Maskulinum nicht angesprochen werden. Ich kenne Menschen, die gegenderte Texte aus verschiedenen Gründen nicht verstehen. Und das liegt in beiden Fällen nicht an Gefühlen oder fehlender Bereitschaft, sondern es sind Fakten. Es ist also egal, wie man es dreht: eine Gruppe wird von der Teilhabe ausgeschlossen.
Wie mache ich es?
Ich habe mich für grundsätzliches Gendern entschieden.
Schriftlich wie mündlich, öffentlich oder beruflich wie privat.
Im persönlichen und direkten Kontakt, sei es bei Gesprächen oder Vorträgen, ist eine direkte Rücksichtnahme einfach möglich. Wenn ich also feststelle, dass mein Gegenüber eine geschlechterneutrale Sprech-oder Schreibweise nicht versteht, passe ich mich an. Außer natürlich, mein Gegenüber will nur nicht verstehen – dann muss es lernen.
Wenn ich öffentlich spreche, versuche ich so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Nur so schaffe ich es, möglichst viele für Barrierefreiheit zu sensibilisieren und zu begeistern. Dass ich dadurch zwar eine Gruppe Menschen aktiv in meine Ansprache mit einbeziehe, eine andere allerdings ausschließe, betrübt mich wirklich. Ohne Gendern bestünde dieses Problem allerdings auch.
Meine Hoffnung ist, dass eine geschlechterneutrale Sprache noch in meiner Generation zum Standard wird. Damit verkleinert sich wahrscheinlich der Anteil jener Menschen, die nur das „generische“ Maskulinum oder die Doppelnennung verstehen. Und wer weiß, vielleicht gibt es bis dahin auch eine geeignete Möglichkeit, in Einfacher und Leichter Sprache zu gendern?
Und wie mache ich es nun genau?
Ich habe Dir jetzt gezeigt, wie ich grundsätzlich zum Thema Gendern und Barrierefreiheit stehe. Im zweiten Teil beleuchte ich die unterschiedlichen Varianten aus Sicht der Barrierefreiheit. Da zeige ich Dir natürlich auch, für welchen Weg ich mich entschieden habe.
P.S.: Ist dir aufgefallen, dass dieser Text neutral formuliert ist? Gendern kann nämlich auch ohne Sonderzeichen wie Stern oder Unterstrich funktionieren. Aber dazu dann am Mittwoch mehr.
Disclaimer: Die Debatte um eine geschlechtersensible Sprache ist im steten Wandel. Gerade auch die Diskussion über eine Abgrenzung, Überschneidung oder Deckung von Gender und Geschlecht verfolge ich mit Interesse, aber dennoch als Außenstehender. Ich lerne ständig Neues, vor allem durch den Kontakt mit Betroffenen und Expert_innen in eigener Sache. Wie auch in vielen anderen Bereichen ist Intersektionalität hier schwierig und nur im Prozess erreichbar. Wenn Du also Anmerkungen hast, schreib mir gern!
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